Selfist: 22. – 24. Juli 2025 @NEST

Selfist von Elisabeth Bakambamba Tambwe

Der Mythos des Narziss, der oft auf ein utilitaristisches Klischee reduziert wird, um Egoismus und Eitelkeit zu bezeichnen, ist weitgehend von seinem ursprünglichen Wesen entstellt worden. Was wäre, wenn wir Narziss missverstanden haben? Was, wenn seine Besessenheit von seinem Spiegelbild weniger ein Beweis für Oberflächlichkeit war als ein Akt des existenziellen Überlebens?

In der uns überlieferten Erzählung verliebt sich Narziss in sein Abbild, bis er schließlich verdorrt und stirbt. Dieses Verhalten ist als Illustration einer übermäßigen Selbstliebe, als Warnung vor Individualismus und Exzess interpretiert worden. Diese Lesart ist zwar weit verbreitet, geht aber an einer tieferen Wahrheit vorbei: Narziss ist nicht egoistisch, er ist verloren. Die Besessenheit des Narziss von seinem Spiegelbild ist kein Akt der Eitelkeit. Er bewundert sich nicht für das, was er ist, sondern für das, was er zu verstehen sucht. Sein anhaltender Blick ins Wasser spiegelt eine existenzielle Suche wider: Wer bin ich?

In dieser Reflexion sieht er nicht nur ein Bild, sondern eine Frage, die ihn verfolgt. Dieser eingefrorene Moment vor dem Wasser wird zu einem Versuch der Erkundung, zu einem Abstieg in sich selbst. Narziss ist nicht in seinem Bild gefangen, sondern in seinem Bedürfnis, seine Identität in einer fragmentierten und schwer fassbaren Welt zu klären.

Für Roland Barthes ist die Liebe in Fragmente einer Sprache der Liebe (1977) ein Raum des Leidens, des Wartens und der Widersprüche. Das liebende Subjekt verzehrt sich in seiner Besessenheit, so wie Narziss sich in der Anbetung seines Spiegelbildes verliert. Barthes beschreibt die Erfahrung der Liebe als eine unaufhörliche Suche nach Sinn, als einen inneren Dialog, der durch das Begehren angeheizt wird, aber oft durch die Unmöglichkeit gekennzeichnet ist, die daraus entstehenden Widersprüche zu lösen. In ähnlicher Weise ist Narziss in einer introspektiven Schleife gefangen: Sein Spiegelbild fungiert als stummer Partner bei dieser Suche, als Projektionsfläche für seine Fragen.

Dieser neu interpretierte Mythos offenbart ein tiefes Echo unseres menschlichen Daseins. Wie Narziss versucht jede*r Einzelne, sich in einem Spiegel zu definieren, sei es in einem physischen, sozialen oder digitalen.
Soziale Netzwerke beispielsweise sind ein zeitgenössischer Widerhall von Narziss‘ Pool: ein Ort, an dem man sein oft fragmentiertes Spiegelbild unter die Lupe nimmt.

So wird Narziss zu einem Symbol für unsere innere Zerrissenheit. Seine Faszination für sein Abbild, die fälschlicherweise als Arroganz interpretiert wird, spiegelt in Wirklichkeit seinen Durst nach Einheit und Verständnis wider. Er ist der Archetyp des Menschen, der versucht, die verstreuten Fragmente seiner Identität in einem Spiegel zusammenzusetzen, der die Wahrheit nie vollständig widerspiegelt.

Was wäre, wenn wir Narziss nicht als Egozentriker, sondern als Entdecker betrachten würden? Sein Versagen läge dann nicht in seiner vermeintlichen Selbstliebe, sondern in der Unfähigkeit des Spiegelbilds, seine Fragen zu beantworten. Der Wasserspiegel bietet nur eine Oberfläche, eine Erscheinung. Was Narziss sucht, ist Tiefe, Essenz, das wahre Echo seines Wesens.

Aus dieser Perspektive ist Narziss nicht nur eine tragische Figur. Er erinnert uns auch daran, dass die Selbsterkenntnis ein notwendiges und zugleich riskantes Projekt ist. Beim Eintauchen in den Spiegel geht es nicht darum, sich im Schein zu verlieren, sondern darum, darüber hinaus zu gehen.

Credits

Künstlerische Leitung/Choreographie: Elisabeth Bakambamba Tambwe // entwickelt und aufgeführt von: Bishop Black, Max Mayer, Sunny Jana und Überraschungsgästen // Dramaturgie/Recherche: Benoît Jouan /Leila Vidal- Sephiha // Musik und Komposition: Ursula Winterauer // Lichtdesign: Svetlana Schwin // Video: Eduardo Triviño-Cely // Bühnenbild: Ariel Elbert // Kostüme: Ariel Elbert, Elisabeth Bakambamba Tambwe // Produktion: Indra Jäger // Online-Kommunikation: François Tambwe

Produziert von: Dig Up Productions
Koproduktion: ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival, THEATER AM WERK, Wien
Unterstützt von: MA 7 Stadt Wien Kultur

BIOS

Bishop Black (dey/deren) ist ein*e britische*r Künstler*in, die seit sieben Jahren auf der Bühne stehen, zunächst als Performance-Künstler*in, um dann zu Drag und später Burlesque zu wechseln. Dey drücken sich vornehmlich dadurch aus, den Körper als Sprache und politisiertes Werkzeug einzusetzten, durch Sexualität und Gender. Nachdem Bishop Black in den vergangenen Jahren im Bereich Film gearbeitet hat, ist dey hauptsächlich auf der Bühne und entwickelt einzigartige, jedoch miteinander verbundene Performances, bei denen Mythologie, Okkultismus, Queersein und Tanz zum Einsatz kommen. Bei allen Arbeiten wird die Intention, durch Musik und Schauspiel Stimmungen zu schaffen, als Leitmotiv gesehen, das auf Weiterentwicklung und Wachstum ausgerichtet ist, indem das, was als lächerlich gesehen werden könnte, befreit wird, und die Hemmungen, die man im eigenen Körper spürt, belebt und entriegelt werden.

Born in Vienna in 1974, Max Mayer studied acting at the Vienna City Conservatory. After numerous works as a freelance actor, he was a member of the ensemble at Schauspielhaus Graz from 2006 to 2008, the ensemble at Schauspielhaus Wien from 2008 to 2013 and Schauspiel Frankfurt from 2014 to 2016. In 2011, he was awarded the Nestroy Prize for ‘Best Actor’. Further engagements have taken him to the Thalia Theatre Hamburg, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, Schauspielhaus Bochum, Burgtheater Vienna and Schauspiel Köln. He works closely with director Robert Borgmann and visual artist Jonas Vogt. Since the 2019/2020 season, he has been a member of the ensemble at the Residenztheater in Munich, where he also develops his own projects. In 2023, he performed at the ImPulsTanz Festival as Jérôme Bel by Jérôme Bel.

Sunny Jana ist eine österreichisch-amerikanische Künstlerin. Sie arbeitet multidisziplinär und schafft Haarskulpturen, betreibt Pole Dance, malt und kreiert Food-Fantasien. Sunny möchte Kunst erschaffen, die ein Gefühl der Selbstentwicklung und Bewertung der eigenen Sinne vermittelt und das Publikum dazu anregt, ihre Wahrnehmungen in Bezug auf das Gewohnte zu hinterfragen und herauszufordern.

Elisabeth Bakambamba Tambwe wurde in Kinshasa geboren und wuchs in Frankreich auf, wo sie Bildende Kunst und Bildhauerei studierte. In ihrem choreografischen Werk beschäftigt sich die Künstlerin mit der sensiblen und fragilen Dimension des Körpers und dem Konzept von Normalität, die sie als tyrannisch und entwürdigend kritisiert. Ihre jüngsten Arbeiten wurden unter anderem bei den Wiener Festwochen, dem steirischen herbst, brut Wien, donaufestival, WUK performing arts, ImPulsTanz Vienna International Dance Festival und Afro Vibes Amsterdam gezeigt.

Benoît Jouan (*1972) ist Autor und Illustrator. Er hat Bildende Kunst studiert und einen Universitätsabschluss (Master of Visual and Plastic Arts/ Universität Lille III, Frankreich) sowie einen Abschluss an einer Kunstschule (National Superior Diploma of Expression of Plastic Arts-DNSEP & National Diploma of Plastic Arts-DNAP of the School of Tourcoing, Frankreich). Er arbeitete zwanzig Jahre lang (1999-2019) am Lille Métropole Museum of Modern, Contemporary and Outsider Art (LaM) in Villeneuve-d’Ascq (Frankreich) als Dozent und Leiter von Kunst-Workshops (spezialisiert auf Gravur) in geschlossenen Einrichtungen wie psychiatrischen Krankenhäusern und Gefängnissen. Seit 1998 arbeitet er mit Elisabeth Bakambamba Tambwe zusammen. Im März 2022 zog er nach Wien, wo er seither lebt und arbeitet.

Leila Vidal Sephiha, geboren 1994 in Paris, ist Regisseurin, Dramaturgin, Performerin und Theaterwissenschaftlerin. Sie studierte  Geistes- und Theaterwissenschaft an der Universität Paris Nanterre und der Ludwig-Maximilians-Universität München und forschte von 2017 bis 2022 im Rahmen einer Promotion über Nicolas Stemanns Schaffensprozess von 2017 bis 2022 für eine Promotion. Seit 2015 arbeitet sie als Theaterpraktikerin in Deutschland (u.a. zwei Dokumentarfilme für die Akademie der Künste Berlin). Nach zahlreichen Erfahrungen (Münchner Kammerspiele, Théâtre Nanterre-Amandiers, Ruhrtriennale, Opéra Comique de Paris, Maxim Gorki Theater, Théâtre de Vidy-Lausanne, usw.) Leila Vidal Sephiha war Regieassistentin am Schauspielhaus Zürich und arbeitete eng mit fünf Regieassistenten zusammen: Nicolas Stemann, Yana Ross, Alexander Giesche, Christopher Rüping und Leonie Böhm (2019 bis 2022). Als Künstlerin ist sie Initiatorin und Teil des künstlerischen Teams von Projekten mit unterschiedlichen Medien wie dem Kurzfilm KOMODO Danger en voie de disparition (über die gleichnamige vom Aussterben bedrohte Art), die Stücke Performers Rule: B612 (Laura Weibels performativer und meditativer Video-Essay über Trauer und Erinnerung) und Performers Rule: Soï (improvisiertes Duo aus Körperausdruck und freier Musik auf der Suche auf der Suche nach sich selbst mit dem Musiker Samuel Boutros).

Ariel Elbert (dey/deren), Bühnen- und Kostümbildner*in mit Diplom an der HfBK Dresden, hat an Projekten wie *Beyond the Overflow* (2023) und *Speech of Love – Absence* (2022) mit Elisabeth Bakambamba Tambwe gearbeitet – Weitere Arbeiten umfassen *Performance HALT* (2021), *SOMATOGENESIS* (2021) und *Dining Room* (2020). Ariel arbeitet frei an verschiedenen Performance- und Kunstprojekten und hat als Assistenz bei Produktionen wie *Le Grand Macabre* (2021) von Martin G. Berger und *Replacement Place* (2015) von Patricia Noworol gearbeitet.

Ursula Winterauer alias Gischt lebt und arbeitet als Komponistin, elektronische Musikproduzentin und Kuratorin in Wien. Ihre Arbeiten setzen sich mit rohen und brutalen Klängen in digitaler Überbestimmheit auseinander, liefern differenzierte Interpretationen der Genres Industrial, Techno und Ambient. Winterauer ist Bassistin der Doom Pop Band Eaeres und ist Teil des Duos The Answer is No mit Maja Osojnik. Sie arbeitet als Sounddesignerin und Komponistin für Film und entwickelt Kompositionen für zeitgenössischen Tanz, ist Labelboss von Ventil Records, Co-Organisatorin und Kaufmännische Leitung des Unsafe+Sounds Festivals und Kuratorin von New Salt – Festival for sonic exploration & digital art.

Svetlana Schwin wurde 1984 in Krasnoturyinsk im Ural geboren. Sie studierte darstellende Kunst in Bremen (D) sowie Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien. Sie arbeitet als freiberufliche Lichtdesignerin, Theaterregisseurin und Autorin in Wien. Das Jugendstück „Pietro Pizzi“ gewann den Jungwild Förderpreis und die STELLA. Sie war Teilnehmerin der Schreibwerkstatt am Schauspielhaus Wien. Das Hörspiel „Mein Mitleid mit den Dingen“ erhielt den Sonderpreis für Dichtung beim Wettbewerb für Kurz-Hörspiele 2018. Als Lichtdesignerin arbeitet sie mit independent Gruppen in der Tanz- und Performance-Szene. Sie kreiert ihre eigenen Lichtobjekte und Lichtinstallationen, wie den Leuchtturm im Jahr 2020. Ihre Performance „Kuss“, ein Spiel mit Körper und Licht, existiert seit über 9 Jahren in mittlerweile 4 Versionen und wurde unter anderem im WUK, Werk und Ballhaus Ost in Berlin gezeigt.

Eduardo Triviño-Cely wurde 1990 in Bogotá, Kolumbien, geboren. Er lebt und arbeitet zwischen Kolumbien und Österreich. Durch experimentelle Prozesse in Klang, Skulptur und digitalen Medien interveniert er im öffentlichen Raum mit Installationen, Performances und Aktionen. Er erforscht den Wert von Misserfolg, Fehlern, dem Unsichtbaren und den Grenzen der Wahrnehmung. Damit sucht er nach neuen Perspektiven auf unsere natürliche Umwelt und hinterfragt kulturelle Konzepte. Mit einem Hintergrund in den bildenden Künsten nähert er sich dem Klang autodidaktisch und bewegt sich im experimentellen Bereich, der Materialien, Konzepte, neue Technologien und Körperteile einbezieht. Seine jahrelange Arbeit im Theater hat dazu geführt, dass sein künstlerisches Schaffen von Bühnenbild, Schauspiel, Requisiten und Dialogen beeinflusst wird.

Indra Jäger, geboren in Frankfurt am Main, lebt seit 2000 in Wien. Nach dem Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften hat sie den Kunst- und Kulturverein IM ERSTEN mitinitiiert und geleitet (2012-16). Seitdem ist als Kuratorin und Produzentin, seit 2022 für Dig Up Productions, tätig. Seit 2023 ist Indra bei der österreichischen Plattform für lösungsorientierten Journalismus relevant.news als Redakteurin und Chefin vom Dienst tätig.

Dig UP Productions SelFist (c) Joel Heyd_Didi Ana Pidal_Stefan Panfili_David Pujadas Bosch

Mit der Unterstützung von:

Stadt Wien Kultur
Impulstanz
Theater am Werk

Details der Veranstaltung:

Selfist

22. Juli 2025
24. Juli 2025

Place:
NEST
NEST
NEUE STAATSOPER IM KÜNSTLERHAUS
KARLSPLATZ 5, 1010 WIEN